Abflug

Langsam zieht sie die Tür hinter sich zu und wirft den Schlüssel in den Briefkasten. Dieses Kapitel wäre abgehakt.

Sie hat nur eine kleine Tasche gepackt. Das meiste braucht sie nicht mehr, es ist zu sperrig, zu sehr Vergangenheit, um mitgetragen zu werden. Die WG war nie ihr Ding gewesen, gut, dass es jetzt vorbei ist.

Sie winkt dem Taxi, das sie an die nächste Straßenecke bestellt hat. Ein sehr junger Mann sitzt am Lenkrad, lächelt ihr freundlich zu und hilft ihr, die Reisetasche in den Kofferraum zu heben. Wo es hingehen soll, will er wissen und wartet geduldig ihre zaghafte Antwort ab. Dann schaltet er das Taxameter ein und fährt los.

Im Radio dudelt irgendwas von Wolfgang Petry, kein angemessener Song für ihren Neustart. Was die jungen Leute so an Schlagern finden, fragt sie sich zum wiederholten Mal. Die Strecke zum Flughafen kennt sie gut. In ihrem früheren Leben musste sie oft durch die Weltgeschichte fliegen, hatte Jobs in Übersee und überall auf dem Kontinent.

Im Vorbeifahren nimmt sie Abschied. Sie winkt dem Türken am Gemüsestand zu, dem alten Rathaus, dem Siedlungshäuschen, in dem ihre beste Freundin aufwuchs. Dort in der Kneipe hatte sie mal einen tollen Typen kennengelernt und auf dem Parkplatz, den man von der Straße kaum sehen kann, kurz dahinter, sich von ihm vögeln lassen. Er war mit Worten besser als mit Taten. Wiedersehen wollte sie ihn nicht.

In dem Krankenhaus war ihre Schwester geboren, die leider nur drei Tage lebte. Den Friedhof wollte sie nicht mehr sehen, sie bittet um einen Umweg.

Langsam wird die Besiedlung dünner, die Straßen breiter. Die Markierungen fliegen vorbei, als der junge Mann beschleunigt und sie schließt die Augen. Bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen.

Sie muss eingenickt sein, der Fahrer fasst sie sachte am Arm. Erst kann sie sich kaum orientieren, dann blickt sie in seine freundlichen blauen Augen und lächelt. Ich habe heute Nacht schlecht geschlafen, entschuldigt sie sich.

Sie gibt ein reichliches Trinkgeld, lässt sich mit der Tasche helfen und verabschiedet sich mit einem Winken. Den Guten-Flug-Wunsch quittiert sie mit einem Achselzucken und betritt das Gebäude.

Viel hat sich nicht verändert in den letzten Jahren, stellt sie fest. Einchecken, Passkontrolle und das Durchleuchten ihrer Tasche verläuft wie immer. Sie setzt sich in den Wartebereich und sieht für einen Augenblick noch ihre Einwanderungsunterlagen durch. Kuba, denkt sie und freut sich.

Als der Flieger startet, bekommt sie ein wenig Panik. Aber die legt sich rasch, als sie die Wolken von oben betrachten kann. Über den Wolken, wer sang das noch? Ach ja.

Wann sie sie wohl finden, sinniert sie. Bei der Witterung dürfte es mit dem Gestank ein wenig dauern. Gut, dass Kuba nicht ausliefert.

Alice

6 Kommentare Gib deinen ab

  1. violaetcetera sagt:

    Der letzte Satz stellt noch einmal alles auf den Kopf, Klasse!

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  2. Nur ein Wort: Büchlein! Oder anders gesagt. Alice to go! 😉

    Liebe Grüße, Werner 🙂

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    1. Danke dir 😊
      Liebe Grüße
      Alice

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  3. fein. Und wirklich ein toller letzter Satz :-), der meiner Phantasie Tür und Tor öffnet 🙂

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