ABC-Etüde – Letzte Stunde

Zu den Etüden bei Christiane. Die Wortspende kommt von Stepnwolf.

Der Gong ertönt. Im Lehrerzimmer wird es unruhig, erste Taschen werden gepackt, ein letztes Mal vom Butterbrot abgebissen, noch schnell ein Schluck Kaffee nachgekippt. Die Referendare und Ehrgeizigen verlassen schon den Raum, die Älteren bleiben noch für einen Moment sitzen und warten auf das zweite Klingeln. Der neue Schulleiter steckt kurz den Kopf zur Tür herein, bemerkt den Blick des dienstältesten Kollegen und zieht sich zurück.

Irgendwann setzen sich alle in Bewegung, der alte Chemielehrer zuletzt. Er hat mal wieder vergessen, in welche Klasse er jetzt muss, kämpft noch mit der Stundenplan-App, die bei dem schwachen Netz im Schulgebäude in Zeitlupe lädt.

Vor dem Klassenraum stehen die Schüler bereit. Während er seine überladene Tasche durch den Gang schleppt, kann er ihre Unlust riechen. Seine Sehnsucht nach dem Ruhestand ist übermächtig.

Noch eine Woche, dann sind Sommerferien. Sechs Monate weiter ist er frei. Vierzig Dienstjahre sind voll, die Altersgrenze erreicht, immer den Mund gehalten, immer pünktlich zum Dienst erschienen.

Während er die Reagenzgläser auf das geflieste Pult räumt und mit einer Handbewegung die Schüler auf die Plätze scheucht, ärgert er sich, nicht aufmüpfiger gewesen zu sein. Nichts wird er hinterlassen, außer einem langweiligen Eindruck und in einigen Jahren einer Nachrufkarte am schwarzen Brett.

Seine Finger finden die Chemikalien ohne, dass er hinsehen muss. Er schaltet den Bunsenbrenner an, nuschelt ein bisschen zu den handyzockenden Schülern herüber, mischt, rührt, erwärmt.

Er hat kaum gefehlt, sich sogar mit einer Grippe hergequält, nur damit ihm niemand was nachsagen kann. Und zum Dank wird er eine Tasse mit Schullogo bekommen.

Er setzt die Gasmaske auf und kippt die letzte Zutat hinein.

Binnen Sekunden ist der Klassenraum mit einer grüngelben Dunstwolke gefüllt, die Schüler verlassen kreischend den Raum.

Langsam zieht die Wolke bis zum Lehrerzimmer. Er hat es geschafft, die größte Stinkbombe seines Lebens zu mixen.

Alice

26 Kommentare Gib deinen ab

  1. 😂😂😂 Sehr gelacht am Ende, aber eigentlich ist es ziemlich traurig…..

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    1. Leben ist, was man draus macht. Selber Schuld irgendwie… aber vielleicht kriegt er ja doch die Kurve 🙂

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  2. Ey, SUPER! Stinkbomben Mal von einem Lehrer!
    Als ich Kind war, haben wir uns regelmäßig welche gekauft und sind dann durch die Kaufhäuser gezogen und haben hier und dort welche fallen gelassen. Erwischt haben sie uns gottseidank nie.

    Das waren damals so gefüllte kleine Glaskugeln, aber heute gibt es die leider nicht mehr zu kaufen. Schade, denn ab und zu hätte ich ganz schön Lust ….

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    1. Sie begleiteten mein gesamtes Schulleben. Ich war tatsächlich zu brav, habe mich aber immer diebisch gefreut, wenn ein Mitschüler eine im Pult platziert hatte und wir raus mussten aus dem Raum…
      Ich glaube, die gelten tatsächlich als gesundheitsschädlich… warum auch immer 😉

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  3. Christiane sagt:

    Hach, der gefällt mir 🙂
    Absicht oder nicht: sehr schön! Ich kann mir vorstellen, dass das viele in den Fingern juckt …
    Ganz liebe Grüße
    Christiane, lachend beim Kaffee 😀

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    1. Das war wohl Absicht 😉 Wenn die Dinger nicht verboten wären, hätte ich wahrscheinlich auch schon…. 🙂
      Liebe Grüße
      Alice

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  4. Reiner sagt:

    Fein 🙂 Klingt nach echter Liebe zur Berufung!

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    1. Ja, manche sind echt für diesen Beruf geboren 🙂

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  5. Nati sagt:

    Wenigstens zum Schluss einmal auffallen, grins….
    Da ist der bleibende Spitzname nicht weit.

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  6. Zu meiner Schulzeit war es Buttersäure. Auch stets im Chemietrakt. Irgendwelche Leute ließen da öfter mal welche frei und der Unterricht fiel aus. Bedauert hat es niemand, allerdings. 😅

    Ich hoff auch, dass der Lehrer noch die Kurve kriegt und das Beste aus seinen Rentenjahren rausholt. Besser später als nie. 😇😉

    VVN

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    1. Vielleicht ist diese kleine Rebellion genau das, was er brauchte… 🙂

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  7. books2cats sagt:

    Hihi… Finde ich gut. Des Lehrers letzte Rache. 😁

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  8. Stepnwolf sagt:

    😀 Sehr schön.
    Ich hab ja Chemie nie so wirklich gemocht. Wäre wohl auch einer dieser gelangweilten, am Handy zockenden Schüler gewesen. Wenn es damals schon Handys gegeben hätte.

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    1. Liegt immer an den Lehrern 😄😉

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      1. Stepnwolf sagt:

        Natürlich. 😄

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  9. Zumindest hat er sich endlich einmal bemerkbar gemacht! 😀

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    1. Olfaktorisch aufgemuckt quasi

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  10. www.wortbehagen.de.index.php sagt:

    Hach, wie schöööön, eine riesige Stinkbombe 🙂
    Wen das mal keine Überraschung war.

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    1. Ja, ne? Davon träume ich manchmal

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      1. www.wortbehagen.de.index.php sagt:

        Wer nicht *g*

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  11. Myriade sagt:

    Ach , der Arme ! Mein Mitgefühl gehört dem demnächst in Pension gehenden Lehrer mit den gelangweilten Schülern und den öden Kollegen. Wahrscheinlich ist er selbst schuld, aber trotzdem …

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    1. Er hat sich ja schon entwickelt und dabei unangenehme Düfte freigesetzt … vielleicht hat er am Ende noch zu seiner Berufung gefunden 😊

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  12. Arthrotia sagt:

    Überraschendes Ende. Naja, er ist ja auch schon leicht vergesslich. In meinem Grundstudium gab es eine „Vornuschelung“ eines Prof. Er war auch schon älter. Meistens sind ihm seine Handversuche nicht gelungen. Aber so eine Stinkbombe hat er nicht geschaffen. Vielleicht war der zufrieden mit seinem Sein.
    Dein Alter hat nichts mehr zu verlieren. Er geht ja eh bald. Da kann er ruhig an seinem Nachruf arbeiten.😂👨‍🔬

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    1. Ob Absicht oder nicht, er hat eine Legende erschaffen…😂

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